Wie betrunkene Motten San Francisco, nachts • 4 Min Lese

Foto: Anthony Yves

Der weiße Teppich färbte sich dunkelrot. Wie kleine Flüsse, die in Seen aus Blut zusammenflossen. Grüne Glasscherben lagen daneben, in großen Stücken, scharf wie Skalpelle, der gesprungene Flaschenhals lag in der Ecke des kleinen Zimmers, in der unser Esstisch stand.

Dort, wo die Wand vorher weiß gewesen war, tropfte jetzt Wein von einem hellroten großen Farbklecks in langen Linien bis auf den Holzboden. Surreal wie in einem Gemälde, auf das jemand einen Farbeimer geworfen hatte. Ana atmete schnell. Ihre Brust bewegte sich auf und ab, ihr Make-Up war verronnen, die tigergestreifte Bluse über die Schulter gerutscht, pechschwarze Haarsträhnen fielen über ihre braunen Augen, klebten an ihrer Wange. Ihre Augen waren ganz glasig vor Tränen. Sie starrte aus dem kleinen Fenster auf die Einfahrt, an den heruntergebrannten Kerzen vorbei, durch die grauen und gebrochenen Jalousien. Draußen auf der Straße lag das Iphone, das noch leuchtende Display zersplittert, unter der nachtgrauen Hecke. Es war mucksmäuschen still, nur ein Betrunkener ein paar Blocks entfernt schimpfte kurz und eine Flasche zersprang. Ana zündete sich eine Zigarette an, sie zog heftig daran und hielt den Atem an. Der Wein hatte die Nacht für uns vergessen gemacht, jetzt legte sie sich um uns wie eine fürsorgliche Mutter, die sagt „Es reicht jetzt, geht ins Bett.“ Timo fing im Kinderzimmer an zu schreien. Wir bewegten uns beide nicht. Dann wischte sich Ana mit ihrer Bluse über das Gesicht und verschwand im Gang ohne ihren Blick zu heben. Sie zog eine Rauchspur hinter ihrer Zigarette her. Ich stand so leise wie möglich von meinem Klappstuhl auf, blies die Kerzen aus und ging in die Küche. Plötzlich war ich wieder ganz klar, ganz nüchtern. Ein kühler Wind ließ mich tief einatmen. Ich schenkte mir ein Glas Wasser ein, trank es in einem Zug und füllte es wieder auf. Die Küchentür zum Hinterhof schlug sanft gegen den Türstock. Ich öffnete sie und stieg die vier Betontreppen hinunter ins Freie. Der kleine Hinterhof war dunkel und nur von einer bläulichen Laterne angeleuchtet. Es war scheiße unheimlich, hier zu stehen.

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Johannes Niesel-Reghenzani

„Manchmal, weißt du, manchmal möchte ich ihr wirklich etwas antun,“ sagte Marc in einem unterdrückten, fast geflüsterten Ton, „ich weiß nicht, ob ich das noch länger aushalte. Die macht mich fertig. Ich möchte, dass sie nicht mehr lebt.“ Seine Stimme war voller Hass. Es klang gespielt, aber sein Blick war starr und todernst. „Erst hängt sie mir das Kind an und jetzt… Ich pack‘ das nicht, Nils!“ Ich hatte keinen blassen Schimmer, was ich darauf antworten sollte. Ich wusste nur, dass Marc schon einmal eine Frau ins Krankenhaus geprügelt hatte und dafür im Knast gelandet war. Nicht lange zwar, weil sie aus irgendeiner Art von Liebe falsch aussagte, aber immerhin. Das war vor circa fünf Jahren. Ich nickte, nicht wirklich überzeugt, aber ich wollte mehr hören. „Weißt du, Frauen haben eine ganz mächtige Waffe gegen uns Männer. Ich habe Ana noch nie geschlagen, ehrlich, aber diese Streits gehen zu weit, verstehst du? Ich habe mich damit abgefunden, dass sie mir erst nach sechs Monaten gesagt hat, dass ich einen Sohn habe, aber als wir das letzte Mal Zoff hatten, letztes Mal habe ich die Polizei gerufen, ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte, nur um mich zu schützen, verstehst du? Ich weiß ich bin betrunken, aber verstehst du das?“ Ich verstand kein Wort, aber nickte wieder. „Sie wollte denen später erzählen, ich hätte sie vergewaltigt. Oder sexuell genötigt oder so was, verstehst du? Dagegen kannst du nichts unternehmen als Mann.“ „Ist dir das schon einmal passiert, Marc?“, fragte ich. Ich wusste, dass er wusste, dass ich Bescheid wusste. Ich wollte es nur aus seinem Mund hören. Er blickte mich an, dann wieder starr an die Wand: „Ich habe mich öfters in Streits selbst blutig geschlagen. Ins Gesicht, auf den Kopf, weißt du, das ist nicht gut für den Kleinen, der bekommt das immer irgendwie mit.“ Seine Augen glühten vor Zorn, die rechte Hand hatte er geballt, über den Knöcheln färbte sich die Haut weiß, ich hatte wahnsinnig Schiss, wie konnte dieser warmherzige Mann so sehr die Kontrolle verlieren? Wie konnten die beiden das aushalten, sich so zu prügeln? Marc stand da im Dunkeln wie ein trotziges Kind, ich hielt ihm das Wasserglas hin. „Beim letzten Klassentreffen habe ich Ihnen allen gezeigt, was aus mir geworden ist, dem kleinen, schwachen Markus, der ja so dumm war, allen hab ich’s gezeigt! Allen!“ Er schrie, ganz leise. Seine Stimme bebte. „Marc?“, flüsterte ich nach einer kurzen Pause, „Ist dir das schon einmal passiert?“ Zwei grüne Katzenaugen starrten mich aus der Hecke an, es war ganz still um die Garagen herum, kein Auto auf der Straße, nur wir und die Nacht.

Anthony Yves
Anthony Yves

„Ach, weißt du, das ist lange her. Möchte ich jetzt auch gar nicht drüber reden. Einer der Gründe warum ich mit meinem Vater gebrochen hatte, ich hab das einfach so gemacht, ich hatte keinen Bock mehr immer zu rebellieren, diese Spießer, deswegen bin ich ja auch nach Amerika gegangen, ich war immer schon der Ausreißer. Der faule Markus, der Taugenichts. Denen habe ich’s allen gezeigt!“ „Findest du nicht, dass es dir egal sein sollte, was die anderen denken? Das ist doch auch schon Jahre her!“ „Aber weißt du, wenn jemand stirbt, dann ist es zu spät, zu spät. Scheiße.“ Er setzte die Weinflasche ein wenig schief an die Lippen, nahm einen großen Schluck und reichte sie mir. Er schwankte. Wie ein kleiner Bär stand er in der Einfahrt, groß und dick, die grauschwarzen Brusthaare lugten oben aus seinem T-Shirt, es war voller Rotweinflecken.

„Weißt du, manchmal möchte ich sie umbringen!“

Ich lächelte: “Das ist der falsche Moment Witze zu machen, Marc.“

„Ich mein’s ernst! Ich halte das nicht aus auf diesen 30 Quadratmetern mit den beiden, ich brauch Platz! Sie wird mir Timo wegnehmen! Dann darf ich ihn nie wieder sehen! Das bringt die durch!“

„Du weißt doch genau, dass man dafür ins Gefängnis kommt, das ist es doch nicht wert!“

„Woher weißt du das?“

„Weil…Ich, sag mal spinnst du jetzt?!“

Marc sah mich bedrohlich und voller Überzeugung an. Ich war richtig sauer auf diesen betrunkenen 50-Jährigen vor mir, und verstand genauso wenig warum mir zuerst der Gedanke mit dem Gefängnis kam und nicht, dass einen Menschen zu töten grausam und verzweifelt ist. Alles fühlte sich so unecht an.

„Ist mir doch egal, ich hol’ jetzt mein iPhone.“

Marc verschwand hinter dem Haus. Ich fror ein bisschen in der frischen Nebelluft San Franciscos, steckte die Hände in die Hosentaschen, balancierte die Stufen hoch und setzte mich auf die oberste. Für eine halbe Stunde saß ich erstmal dort, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt und dachte an nichts. Manchmal brauchte ich diese Momente, wenn ich nicht wusste, wie ich reagieren soll. Meine Augen klinken sich von meinem Gehirn aus, ich kann einfach nach vorne starren, egal was dort passiert. Die frische Luft tat gut. Am anderen Ende des kleinen Hinterhofs stürzten kleine Falter und Mücken immer wieder gegen das heiße Glas der blauen Laterne. Ein paar von ihnen klebten dort schon. Wie wir, dachte ich. Fuck, genau wie wir. Wir wissen, das kann nicht gut gehen, und rennen trotzdem immer wieder Kopf voran ins Feuer. Die Laterne flackerte und ging aus. Wahrscheinlich die Lichtschranke.

Ich stand auf und ging ein bisschen schräg die Treppen hoch in die Küche. Von vor der Tür summte Marc ganz leise und freundlich, wie ausgewechselt: „Lieber Nils, ich möchte nicht, dass du jetzt schlecht von mir denkst, ich bin wirklich ein guter Mensch, ich bin wahrscheinlich betrunken. Das ist es.“ Ich hatte Kopfweh. Ich hielt eine Tasse unter den Wasserhahn bis sie überlief und horchte in die Dunkelheit hinein. Es tropfte auf den Boden. Timo hatte aufgehört zu schreien, nur aus dem Schlafzimmer hörte ich Ana schnarchen. Ich nahm das tropfende Glas mit ans andere Ende des Ganges, aus dem die Wohnung hauptsächlich bestand. Als ich am Schlafzimmer vorbei ging, stolperte ich über ein Feuerwehrauto aus Plastik, auf dem ein mit Formen und kleinen Schaufeln überfüllter Sandkasteneimer stand. Es rumpelte kurz. Im Haus rührte sich aber nichts. Vor der Wohnungstür lagen unsere Matten auf dem Boden. Ich fiel in meinen Schlafsack, Matze hatte die Augen offen und sah mich an. „Was war los?“, flüsterte er. „Ich weiß nicht. Ich brauche Aspirin,“ stöhnte ich. Fünf Minuten später war ich eingeschlafen.

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