Nils Ketterer Ein Leben als Autor, Texter und Journalist

Nein, ich habe nicht mit 12 heimlich in meinem Zimmer gesessen und begonnen für eine Lokalzeitung zu schreiben. Eigentlich wollte ich ja Detektiv werden, oder Barpianist. Aber das Schreiben ist für mich immer noch die Sache mit dem größten Mythos, den meisten Facetten und Erfahrungen. Geschichten sind für mich alles: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Deswegen bin ich Journalist geworden. Deswegen will ich es immer noch sein – auch wenn es nicht immer ganz einfach ist, sich diesen Beruf zu leisten.

2008

Mein Weg im Journalismus ging so: Mit 19, und nach ein paar Praktikumsabsagen (weil ich hatte ja noch keine Praktika) zog ich nach Berlin für mein Erstes bei einem freien Journalisten. Das zweite machte ich bei der GLAMOUR in München, weil meine Tante dort arbeitete, und schrieb eine Undercover-Story über Ehrenmorde. Mit 20 bewarb ich mich auf der Henri-Nannen-Schule und landete als jüngster auf Platz 21 von 2300 Bewerbern – 20 hätten es geschafft. Tja. Dazu nur: Sie ist nicht Deutschlands härtestes Assessment Center. Aber ein toller Ort.

2009

Dann klingelte mein Handy und der damalige Chefredakteur der GALA war dran. Er fragte, ob ich nicht bei ihm ein weiteres Praktikum machen wolle. Ich musste kurz überlegen. GALA? Wirklich? Aber klar, ich ging nach Hamburg und schrieb dort, mehr oder weniger aus Versehen, meine erste Titelgeschichte. Später fragte ich noch Karl Lagerfeld, wann ihm mal der Kragen platzt, frühstückte mit Audrey Hepburns Sohn, und achja, es gab dort auch unheimlich viel Gratis-Getränke, Gossip und glitzernden Lip-Gloss.

Nichts gegen Lippenpflege, ich ging aber vorerst zurück nach München – zur TZ. Dort hatte in inzwischen seit eineinhalb Jahren gearbeitet. Erst in den Abendnachrichten, dann in der Korrektur, später frei im Lokalteil und am Ende stand mein viertes Praktikum: im Sport. In dieser Zeit wurde auch die erste meiner Geschichten in einem Buch veröffentlicht. Es hieß „A Day on the Planet“ und meine Geschichte „Die erste Kastanie“. Herausgeber und großartiger Typ war damals Matthias Kluckert.

2010

Genug mit Journalismus, dachte ich, nahm mir eine kurze Auszeit, und autostoppte drei Monate ohne Geld durch die USA, von Küste zu Küste. Dann zog ich nach Paris, lebte dort für ein halbes Jahr als Musiker und fing an Kurzgeschichten zu schreiben. Als ich schließlich genug hatte von Großstädten und dem Pariser Gestank, beschloss ich, endlich etwas Vernünftiges zu machen, zog in die Alpen und studierte Politikwissenschaft. Außerdem hatte ich in den Bergen von Innsbruck einen großen Teil meiner Kindheit verbracht und wollte unbedingt zurück an diesen Ort. Im gleichen Jahr stellte mich YELP als Übersetzer und Textchef für seine deutsche Webseite an und ich veröffentlichte ab und zu kleine Geschichten über Männer und Frauen in der GLAMOUR.

2011-2013

Das Studium war verhältnismäßig turbulent: Ich begann einen neuen Job als Blogger für den Ökoenergie-Anbieter POLARSTERN. Ich suchte und fand meinen biologischen Vater, dazu fast alle meine auf dem Globus verteilten Geschwister, fiel zwei Mal durch mein Lieblingsfach, studierte sechs Monate in Spanien und merkte dort, dass ich langsam zu alt wurde für diesen Junior-Karrieretraum, den ich einmal träumte. Und für die Erasmus-Parties, die die 18-Jährigen dort feierten. Wenigstens hatte ich etwas Zeit zu schreiben. Das Ergebnis war eine virale Geschichte in der GLAMOUR. Und meine erste Geschichte für VICE ALPS.

2014

Ich war nun fertiger Bachelor der Politikwissenschaft (Bachelor of Hartz) und lebte und arbeitete als freier Autor (also Kellner) in Wien. Im Frühjahr habe ich neben meiner Bachelorarbeit ein Konzept entwickelt, junge Studenten via EU-Förderung zum Europäischen Mediengipfel am Arlberg zu bringen. Aus dem Konzept wurde ein kleiner Think-Tank, der seit Anfang 2015 auch beim Medienmittelpunkt im Österreichischen Ausseerland für frischen Wind sorgt.

2015

… ging alles plötzlich sehr schnell. Viele Firsts. Jemand schrieb mir eine Email, also schrieb ich meinen ersten Reiseführer für den Neuer Umschau Verlag: Er heißt „Innsbruck Trends & Lifestyle“ und erschien im Herbst. Ich wurde Kolumnist für das Nivea-Men Magazin. Wurde zum ersten Mal als Literarischer Blogger interviewt und meine Texte landeten weiter in VICE und GLAMOUR. Ich textete neue Websites, wie diese hier. Im Sommer verkroch ich mich mit einer Angel zum Schreiben in eine schwedische Waldhütte.

2016

2016 sollte für mich das „Jahr der Bindung“ werden. Also: Handyvertrag, Mietvertrag, Fitnessvertrag, Festanstellung, vielleicht sogar ein Zeitungsabo – all diese Dinge, die ich nicht so richtig gut kannte. In Berlin wollte ich bleiben. Das mit der Bindung ist eine Woche lang gut gegangen, dann bin ich nach Andalusien geflogen, in ein weißes Haus auf einem Hügel am Meer, um an meinem Buch weiter zu arbeiten. Im Frühling flog ich, wie die Wandervögel, wieder zurück nach Berlin und der ganze Wahnsinn hörte nicht auf: Ich schrieb jetzt Reisegeschichten für das FINEWAY MAGAZIN und ging wieder unter die Modebloggerinnen. 2016 war viel Bewegtbild: Ich spielte selbst ein wenig vor der Kamera, arbeitete als Produzent eines Kurzfilms. Mein erstes Drehbuch tourte mit einer Geschichte, die ich geschrieben habe durch Deutschland und Österreich. Txtappeal hatte still und heimlich viele unbezahlte Likes geschafft – und während all dem schrieb ich immer neue Stories. Vielen Dank Universum, dass ich das tun durfte. <3

2017

Es war wahrscheinlich die schönste Email meines Lebens. Rowohlt möchte mein Buch veröffentlichen. Jeder normale Mensch hätte wahrscheinlich gesagt „ja, danke, super, machen wir.“ Ich hatte so viel Angst bekommen, dass ich mich plötzlich monatelang auf einer griechischen Insel versteckt habe und abgetaucht bin. Dort habe ich mich mit Straßenhunden geprügelt, mit Dämonen gekämpft, dreimal Steppenwolf gelesen, und währenddessen mein Buch fertig geschrieben – dann ging es leider, mit einem Teil von mir, in iCloud verloren. Wenigstens war ich jetzt bereit, Autor zu werden. Ich rief bei meiner Rowohlt Nummer an – aber diese Nummer war nicht mehr vergeben. Pleite wie ich war, flüchtete ich mich ins Marketing und schrieb eine größere Kampagne für ein Sportunternehmen.

2018

Sollte das Jahr des Machens werden. Also schrieb ich ein magisches Filmdrehbuch mit einem talentierten Franzosen, NEON wollte mich als Autor haben (Traum-geht-in-Erfüllung-Material!), und ein geheimes neues unisex Magazin namens beige schmierte mir sehr leckeren veganen Honig ums Maul. Mann, ich war richtig begehrt. Der STERN lud mich in Hamburg zur Seitenkritik ein. Dann stand ich dort am Pult, wo ich vor 10 Jahren vergeblich versuchte, eine Schulbank zu ergattern und benahm mich wie ein Arschloch. Ich hätte vielleicht nicht ganz so brutal sein sollen, das gebe ich zu, aber manchmal zersplittern dir die Träume eben, wenn du vor ihnen stehst 😬. Ich hatte auch mein wieder aufgetauchtes und neu überarbeitetes Buch auf meinem Beifahrersitz liegen. Ich legte es der Rowohlt Lektorin auf den Schreibtisch. Dort liegt es bis heute. Ich habe es noch niemand anderem zu lesen gegeben als dieser bezaubernden Lektorin, die mich damals angeschrieben hatte, und die Teil dieser ganzen Geschichte ist. Oh und dann bin ich aus Versehen ziemlich reich geworden!

2019

Hatte eigentlich ganz gut angefangen. Ich war mit Geld aus der Werbung überschüttet worden. Die Leute fanden mich lustig, und das fanden die großen Firmen gut und dann haben sie mir ihr Geld überwiesen. Ich habe viele Espressi getrunken und Muscheln gegessen, mir die Augen gelasert, Cremant Flaschen um mich geworfen, mir ein altes Cabrio und ein paar Bitcoins gekauft, ich reiste monatelang in der Karibik herum. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Ruhe und einen Plan und Sicherheit und habe mich ständig gefragt, wie ich das verdient hatte. Turns out, ich hatte es nicht verdient und nach ein paar Monaten kollabierte alles wie ein Börsencrash: Die Werbehaie kickten mich aus dem Becken. Ich verlor meine Wohnung (weil ich in Bali schon ein Hotel gebucht hatte), ich wurde richtig krank, war verschuldet, die Beziehungstroubles krochen um die Ecke, ich crashte mein Auto auf dem Weg zu einem Pitch bei der Sternburg Brauerei (am Ende haben sie mich wahrscheinlich aus Mitleid ihre Webseite texten lassen), es wurde langsam Winter. Aber das Schlimmste war: Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben irgendwas im Griff gehabt. Und dann war alles in einer Woche verpufft. Statt digital Nomad auf Weltreise hieß es jetzt: Hendl und Massen schleppen auf dem Oktoberfest und hoffen, dass mich keiner der Koksnasen in diesem After-Wiesn-Club verprügelt, in dem ich hinter der Bar stand. Ein weiser Freund von mir sagt: Wenn du Geld brauchst, musst du nahe zum Geld gehen. Ich fuhr also nach Zürich. Mit einem löchrigen Koffer, löchrigen Schuhen und ohne Geld für eine Bleibe stand ich nachts auf der frostigen Straße herum und fragte die Leute, ob sie Arbeit für mich haben.

2020

Es dauerte drei Monate, bis sich alles wieder halbwegs eingerenkt hatte. Die Schweiz und vor allem die Leute dort hatten es gut mit mir gemeint. Die geplante Weltreise war jetzt zwar eher No-Budget, aber ich wollte es trotzdem tun. Ich gab alles auf, ein ganzes Leben in Berlin, allen Besitz und alles, was uns mal etwas bedeutet hatte. Ein Freund hatte mir sein Segelboot angeboten, in der Karibik. Mach damit was du willst, hat er gesagt. Und genau das hatten wir vor, als wir in den Flieger nach Panama einstiegen.

Cut! Es ist März. Ihr wisst alle, was dann passierte. Ich war gefangen auf einem Boot vor Anker, zwischen Karibikhitze, Stürmen und pandemischen Horror-Szenarien. ich hatte noch keine Ahnung, wie man segelt. Niemand von uns durfte an Land. Alkohol war auch verboten. Panama war strikt. Auf dem Boot keine Tür, die man zumachen kann. Kein Platz. Kein Raum. Kein Spaziergang, der dir Luft schafft. Einfach nur Depression und Abyss, du und deine Probleme im Druckkopftopf. Dinge flogen. Wörter flogen. Im August explodierte meine Beziehung in 1000+1 Stücke und der Rest des Jahres war ein grandioser Filmriss. Das Boot musste weg bitte.

2021

Ich wachte in einer Millionenvilla auf, 30 Meter vom Strand irgendwo im Nichts. Kein Schwein dort. Es war ein guter Ort, um verrückt zu werden. Ich war alleine mit den Dschungeltieren und den Sounds des Regens und der Affen auf dem Dach und denen auf meiner Schulter. Wenn mich hier eine Schlange biss, dann hatte ich wenigstens noch eine gute Aussicht, bevor der Vorhang fällt. Jemand bezahlte mir 1000 Dollar, um dort meinen Verstand zu verlieren – und mir schien das ein fairer Deal. Ich fing an, im Kreis zu laufen, zu lachen, zu quietschen. Zehntausend Kilometer weit weg von meiner Familie, von meinen Freunden, von der Pandemie in Deutschland. Grenzen zu, die Taschen mal wieder leer. Aber jetzt wirklich nichts mehr zu verlieren. Hauptsache mal raus aus Panama, dachte ich, durchquerte den Kanal auf einem Segelboot, und endete in Kolumbien, wo sie mir den Propeller klauten, der ironischerweise zum Segeln unabdinglich ist. Wieder stecken geblieben. Also lief ich zu Fuß weiter und weiter, tinderte mich durch Drogen und Prostitution, strawanzte durch staubige Seitenstraßen, bis ich irgendwann in einem Haus im Süden der Hauptstadt Bogotá landete, mit einem Pool und einem Schreibtisch, draußen ging das ganze Land in Flammen auf, die Menschen protestieren… Und ich schrieb und schrieb und schrieb, immer noch Jahre später, bis irgendwann, inshallah, mein zweites Buch fertig sein würde…

2022

Wenn dein Bruder heiratet, dann musst du da sein. Deswegen brach ich die ankerlose Herum-Treiberei in Lateinamerika ab und kam zurück nach Deutschland. Ein paar Text-Projekte waren remote noch machbar gewesen, jetzt musste ich aber etwas seriöser werden. Wo geht das besser als in der Schweiz? Ich wusch ein paar Teller in Zürich, mixte ein paar Cocktails und versuchte, mich wieder an den Europäischen Rhythmus zu gewöhnen. Mitte des Jahres stand mein erster Workshop TXTAPPEAL – sexy und soulful Texte für Firmen und Agenturen. Ich nahm einen großen Job in der PR und Social Media bei Burger King an, und widmete mich – nun wieder reich – in Ruhe dem remote Romanschreiben.

2023

Weil es auch in Südalbanien im Winter recht frisch wird, und man sich beim Schreiben leider zu wenig bewegt, als dass einem warm werden könnte, dachte ich mir, es wäre eine gute Idee, den Altantik auf einem Segelboot zu überqueren und in Kuba weiter zu arbeiten. In einer kleinen Holzhütte am Strand, mit einem Holztisch mit Blick auf das Meer, ein weißer, dünner Vorhang wiegt leicht im Wind. Ein Glas Rum in der Hand, Palmen, Sonnenuntergänge, ein bisschen Tanzen in Havanna. So dachte ich mir das. Kam natürlich komplett anders: Kuba steht nahe der nächsten humanitären Katastrophe. Ich habe mich hinreißen lassen, illegalerweise Journalismus zu betreiben und schrieb eine große Reportage über einen Refugee, der sich mit einer Anleitung aus Google ein Holzboot gebaut hatte, mit einem Segel aus Reissäcken, und eines Nachts zusammen mit zehn anderen und einem Mitglied des Kubanischen National-Segelteams Richtung Key West abhaute. zwölf Kilometer vor der US-Grenze hatte ihn die Küstenwache eingesammelt und zurück gebracht. Auch dem Rest von Kuba geht es nicht gut: Eier, Mehl und Bohnen sind rationiert. Das US-Embargo, die Partei und die Inflation (Monatsgehalt: 2000 Pesos, eine Ananas: 150) haben das Land im Schwitzkasten, und generell macht es kein Spaß ein Ei zu essen vor einem Kind, das schon wochenlang keins mehr gegessen hat. Also zurück nach Europa. Tränen im Flugzeug, die Paranoia, festgenommen zu werden, hinter mir. Und nun: Neustart!

2024

Das bedeutet für mich: 2024 wird das Jahr des TEAMS. Ich werde erwachsen. Verschicke Lebensläufe, bewerbe mich, zum ersten Mal in meinem Leben. Ich werde seriös, könnte man fast sagen. Genug gebastelt, jetzt wird gebaut. Wenn deine Oma sagt, du bist nur ein Rumtreiber, und deine Mutter sagt du gammelst, dann muss man ja irgendwas ändern, oder? Also bewerben, bewerben, bewerben. Dem Ernst des Lebens die Hand schütteln. Eine Bewerbung davon hat mir jetzt das Stipendium an der Montségur Autorenakademie in Konstanz beschert. Es kann also nicht mehr so lange dauern, bis die ersten zwei Romane fertig sind. Ich sag es mal wie die Bahn: Wir bitten die Wartezeit zu entschuldigen. Irgendwas mit Verspätung aus dem Ausland…