Was Bleibt

Alles, was geblieben ist, sind die Vögel draußen vor dem Fenster, im Hof in den Kastanienbäumen und in den Dachrinnen. Das Gefühl ist weg. Die Zeit ist weg. Der alte Münchner Innenhof mit dem Sandkasten und dem Weg außenrum, den ich und Florian stundenlang mit dem Rad in eine Richtung jagten, wie eine menschliche Carrera Bahn. Florian war crazy, er hatte auch noch einen Helm auf, und einen Tacho auf dem Lenker, der er versuchte voll zu kriegen, und er fuhr von morgens bis abends, ohne Pause. Ich weiß nicht, vor was er davon fuhr, vielleicht von dem, was in dem kleinen Reihenhaus seiner Eltern passierte. Andere Kids hatten Tamagochis, wir hatten Tachos mit Durchschnittsgeschwindigkeitsrechner und verballerten unsere Zeit, in dem wir selber zum Sekundenzeiger wurden, der im Uhrzeigersinn durch diesen Hinterhof am Rande der Stadt fegte. Immer nach rechts abbiegen, zweitausend Mal. Dann gibt es Abendessen. Ich habe heute noch Probleme nach links abzubiegen. Wir fuhren um die Wäscheleinen auf der Wiese in der Mitte des Hofes herum, dessen Pfosten wir als Tore verwendeten.

Wir spielten Sechzig gegen Bayern, Köppke gegen Klinsi. Scholl gegen Ronaldo. Elferschießen mit dem Softball, weil der Michi mit dem harten Ball mal ein Fenster eingeschossen hatte und dann gab es Ärger vom Hausmeister; Und bloß nicht erwachsen werden, weil dann kommt man hier nicht mehr unter den Stangen durch und haut sich den Kopf an. Das waren dicke Metallstangen, das hat richtig wehgetan. Ich weiß nicht, wie Günter das gemacht hat. Mein Freund von nebenan. Günter war schon vierzig damals. Oder eigentlich hatte ich nie eine Ahnung wie alt er war. Er war wie der bayrische Karlson vom Dach. Ein höchst merkwürdiger Mann in seinen besten Jahren. Er hatte eine große Märklin Eisenbahn mit kleinen Bergen und Figuren, die ich immer angucken durfte, aber wirklich war ich drüben, weil es dort Twix gab und Snickers und Spezi und wir zusammen geguckt haben, wie Deutschland Europameister wurde, 96. Wie wir beide auf Matthias Sammer geschimpft haben, den rothaarigen Depp, als er die Notbremse vor dem Strafraum gegen Tschechien zog und der Schiedsrichter ihn vom Feld schickte. So ein Arschloch. Noch ein Snickers? Wir gingen auch echte große Eisenbahnen angucken, wenn sie irgendwann mal vorbeikamen. Dann machten wir Fotos, aßen ein Snickers und gingen wieder heim. Günter war immer Junggeselle, aber einmal nahm er mich mit auf ein Date ins Dinosauriermuseum, weil die Frau auch ein Kind hatte, und er sagte einfach „Cool, ich hab auch ein Kind im Haus, das nehm ich dann einfach mit.“ Meine Eltern dachten sicher, der Typ fasst mich an, der ist doch ein Pedo. Hätte er wahrscheinlich tun können. Hat er nie gemacht. Umso weniger verstehe ich diesen Mann heute.

Und immer waren da diese Vögel, abends wenn alle beim Abendessen waren, kurz bevor die Straßenlaternen angingen. Die Amseln haben sich ihre Nester und die Tauben ihre Dachrinnen vorgewärmt und alle haben sich ihre Stories erzählt. Über den verrückten Jungen, der da unten immer Kreis fuhr. Über die zwei Kids, die sich weiter hinten im Hof ausgezogen haben. Über die Kastanien, die jetzt langsam fallen werden, hach, der Sommer ging ja wieder so schnell vorbei. Gerade erst aus dem Urlaub zurück. Davon, wie neulich eine Krähe das Nachbarsnest geplündert hat. Über Günter K. den Junggesellen. Und über das eine Kind, das immer der letzte ist da unten, und partout nicht heim will, wieso starrt es uns immer so an, das belauscht uns doch.

Das einzige, was mir geblieben ist von jener Zeit, die die Leute so gern romantisieren, sind die Vögel. Wie sie zwitscherten und hauchten und man nur auf den riesigen Baum starren konnte und man nie wusste, wo sie jetzt sitzen. Niemand kann romantisieren so gut wie ich.

Die gleichen Vögel sitzen jetzt in der Kastanie unter unserer Dachwohnung in Berlin. Sie machen den gleichen Sound wie damals, deswegen weiß ich das. Es ist morgens, noch bevor die Männer mit Bohrern auf ihre Gerüste klettern. Ist es noch unsere Wohnung, wenn sie geht?

Aber Menschen sind wie ein Slimey aus der Dose. Man kann an uns ziehen und machen was man will, am Ende ziehen wir uns selbst immer wieder zu unserem klebrigen Knäuel zusammen. Die Kunst des Liebens ist, nicht dran ziehen zu wollen. Geduldige Menschen kleben länger, lieben besser.

Ich werde vorsichtshalber mal bleiben, bis ich der letzte bin. Weil dann sprechen die Vögel, und dann gibt es Abendessen.

📸 Severin Goidinger (💙)

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