Ich liebte den Wind. Ich liebte den Wind wie nichts anderes. Ach, was sage ich. Ich liebte das Mädchen viel mehr als den Wind.
Wo es war, spielt keine Rolle. Das tut es nie. Ich habe es auch vergessen, denn mein Gedächtnis reicht – wie bei allen Eichen –nur für ein Jahr. Das hat auch einen Grund, den ich euch aber erst später erzählen möchte, wichtiger ist: Es war Frühling, als sie sich das erste Mal zu mir auf meinen Hügel hoch über dem Flussufer setzte. Im Frühling sind die Vögel immer besonders freundlich. Sie sind einfach gut drauf. Vielleicht ist es die Sonne, oder die Heimatluft nach einer langen Reise, ich bin nicht sicher. Ich mochte sie, weil sich nie ein Mädchen zu mir setzte. Seit ich ein kleiner Baum war kannte ich nur Hunde, die mich, Verzeihung, anpinkelten– immer nur Hund links, Hund rechts, Reh hier, Dachs dort. Aber ich liebte sie, weil sie mich anlächelte, mit ihren grünen Augen. Sie sprach manchmal zu mir, las mir aus ihrem roten Buch vor, oder sie schwieg und las und ihre Lippen bewegten sich fast regungslos, formten lautlos die Worte aus dem Buch und ich liebte es, wie ihre Lippen sich ganz leicht öffneten und wieder schlossen, ich versuchte ihr zu antworten, ihr zu sagen, dass sie bleiben muss; nur diesen Abend, und dann für immer. Aber ich konnte nicht. Ich konnte nicht sprechen, also blieb mir nichts, als zu bewundern, wie sich ihre Lippen senkten, zu bewundern, wie sie war. Ich versuchte ihr mittags Schatten zu schenken und abends Sonne und den lauen Wind. Wenn sie weinte, konnte ich es regnen lassen, damit niemand ihre Tränen sah. Und trotz allem war ich eben nur ein Baum. Ein schöner zwar, eine große Eiche mit Blättern voller Erinnerung und Weisheit. Mit Sprossen voller Ideen und Früchten voller Leben und ein bisschen dick war ich auch. Aber eben nur ein Baum.
Jedes Mal, wenn sie in diesem Frühling kam, lehnte sie sich zu meinen Füßen und ich konnte spüren, wie sie versank in ihrer Geschichte, dieser alten Geschichte aus dem rotbundenen Buch. Ich las jedes Mal mit und der Wind auch. Alle drei kannten wir die Geschichte auswendig. Für sie schien sie eine besondere Bedeutung zu haben, ich aber fand, dass es eine sehr gewöhnliche Geschichte war. Sie erzählte von einem Jungen, einem mutigen Jungen, der ein Mädchen liebte, doch ihr Vater, der ihm wenig Glauben schenkte, verlangte von ihm, dass er zur Probe den Rest seines Leben als Baum verbringen sollte, erst dann würde er sich einverstanden erklären mit den beiden Liebenden. Ganz benommen willigte der Junge ein und bemerkte erst später, zu spät, dass der gewiefte Vater ihn hereingelegt hatte, denn es würde ja bedeuten, dass er sie nie lebendig lieben konnte. Und so wurde er ein Baum und sah dem Mädchen zu, wie es älter wurde, wie es sich ein ums andere Mal verliebte, irgendwann hübsche Kinder auf die Welt brachte, alt wurde, bis sich ihre Schönheit in ihre Augen zurückzog und schließlich starb, als der Frühling gerade einmal wieder über die Landschaft wehte. Und er liebte sie für all das, bis er selbst von der Erde ging. Wie Bäume sterben, ist eines der Geheimnisse, die wir hüten. Ich darf aber soviel verraten, dass wir – genau wie ihr Menschen – nicht selbst bestimmen können, wann es zu Ende ist.
Was für eine schmierige Geschichte, pflegte ich damals zu denken, überaus schmierig und so altmodisch. Und ein Vogel setzte sich auf meinen obersten Ast, während hinter ihm der Himmel orange wurde, als hätte man einen Eimer voll Farbe über ihm ausgeleert. Aber das Leben ist eben manchmal schmierig. Sonst gäbe es ja keine Sonnenuntergänge. Oder zumindest wären sie ganz kurz und schmerzlos. Das dachte ich und legte diesen Gedanken sofort in eines meiner jungen Blätter, es war besonders schön. So tat ich das immer mit meinen Erinnerungen, so war es Brauch bei uns Eichen: „Erinnerung ob schlecht ob gut – hinein damit ins Blätterblut.“ Auch jene dunkle Erinnerung, im späten Sommer einige Zeit später, musste ich ablegen: Wir Bäume hatten schon angefangen, die Farbe zu wechseln, bereiteten uns darauf vor, wie jeden Herbst, all unsere Blätter dem guten Wind zu übergeben und damit alles in diesem Jahr Geschehene zu vergessen. Denn das ist, wie man weiß, die Aufgabe des Windes: Er nimmt, was gehen muss und trägt mit sich, was bleiben muss. Wann, das kann niemand beeinflussen. Nur die wichtigen Erinnerungen, die man auch in kalten Wintern braucht, die bleiben, tief im Stamm, für immer. Aber ich schweife ab, Verzeihung. In dieser Erinnerung also, es war Nachmittag, kam das Mädchen und lehnte sich wie üblich an mich, doch diesmal hatte sie ihr Buch nicht dabei. Sie schien zu warten, auf etwas, oder jemanden? Ich rätselte: Vielleicht auf den Fuchs, mit dem sie sich manchmal hier traf und ihm zu essen brachte? Ich wusste es nicht, aber ich war glücklich, dass sie bei mir war. Ich ließ die Vögel tanzen und singen und den Bach etwas lauter rauschen, überall Blumen aus dem Boden schießen, was im Herbst nicht immer ganz einfach ist. Alles aus Freude, aus Liebe. Sie war bei mir. Doch den Hügel hinauf kam nicht der Fuchs: Es war ein Mann, er war schön und groß und sein Schritt war schnell. Und als er den Hügel erklommen hatte und sich neben sie setzte, küsste sie ihn. Ein unbekannter, heftiger Schmerz erfasste mich. Er holte ein Messer aus seiner Tasche und fing an, etwas in meinen Stamm zu ritzen: ihren Namen. Nichts hat mir jemals so wehgetan. Dann nahm sie das Messer und ritzte den seinen darunter und etwas, das aussah wie ein Herz – geschnitzt in mein Holz, geschnitten in mein Herz, begossen mit meinen Tränen. Mir war so schlecht wie sonst nur, wenn der dicke Bauer mit dem Odeltraktor vorbeifährt. Mein Schmerz war so groß, dass es begann zu regnen, ich schüttelte mich, wand und stemmte mich gegen den Wind des aufkommenden, schwarzen Gewitters. Ich wollte schreien, alles hinaus schreien. Aber es war ein stummer Schmerz, der schlimmste von allen. Ich hatte sie verloren.
Der Herbst, der nun kam, war hart, es war der kälteste meines langen Lebens. Und ich bin sehr alt, ihr wisst ja. Wer war dieser Mann, fragte ich mich ohne mir Ruhe zu lassen. Er war doch so klein, so schwach, was wollte sie mit ihm? Machte er es für sie regnen? Konnte er ihr Freund sein und sie gleichzeitig lieben? Er las sicherlich nicht Stunden um Stunden mit ihr und dem Wind in dem roten Buch. Die Verzweiflung überfiel mich wie ein Sturm und ich musste sie nun – wie ich es immer tat – in eines meiner Blätter legen. Doch dann, zu meiner Überraschung, widerfuhr mir großes Glück: In der nächsten Nacht nahm der Wind, der gute Wind, jenes bittere Blatt mit sich und trug es fort und mit ihm die Erinnerung. Und von nun an tat es nicht mehr weh. Es tat nicht mehr weh, dass sie nun immer mit ihm kam, abends und sie über die Hügel blickten, wo die Sonne unterging. Und das Buch hatte ich auch lange nicht gesehen. Das einzige, das ich nicht vergaß, weil ich es fest in meinem Stamm trug, war meine Liebe zu ihr. Und als sie irgendwann viele Jahre später zusammen mit jenem Mann in ihrem alten Haus unten am Fluss lebte, war ich glücklich, denn sie war glücklich. Und sie hatten ein schönes Zuhause: Hohe Zypressen und Rosmarin säumten den Rand des Feldweges, eine Kirsche stand vor dem Eingang des Holzhauses und teilte mit mir im Sommer die Last der gefräßigen Vögel. Nachts brannten um das Haus Feuerfackeln und noch bis spät in die Nacht fiel goldenes Licht von innen durch die Fenster auf die Gartenrosen im kühlen Kies. Und dann kam der Winter. Meine Blätter fielen und mit ihnen die Erinnerungen. Und so vergaß ich alles, was passiert war. Nur nicht, dass ich sie liebte. Es wurde wieder Frühling und wieder Winter und der alte Hund im Haus wurde träger und es wurde wieder Sommer und wieder Herbst und eines Tages bekamen das Paar ein Kind, einen kleinen Jungen, der von nun an zu mir kam und in dem roten Buch blätterte, das seine Mutter ihm geschenkt hatte. Und der Wind und ich lasen jedes Mal mit, denn ich vergaß die Geschichte immer, wenn es Winter wurde. Sie ging mit meinen Blättern. Und immer noch liebte ich sie, das Mädchen, das jetzt eine Mutter war.
Die Geschichte, die ich euch erzählen möchte, hat natürlich auch ein Ende, wie jede Geschichte. Und das begann an einem Tag, der dunkel und stürmisch war, wie jener, damals, als… Verzeihung, ich erinnere mich nicht mehr. Aber der Wind war zornig und der Regen wild, die Wolken hatten Streit und die Sonne war schon auf der anderen Seite der Hügel. Es donnerte und Blitze überzogen die nun grauen und nassen Wiesen, als ob jemand von oben die Welt fotografierte, während sie sich versuchte zu wehren. Und an diesem dunklen, späten Abend war der Hund, dieser törichte Hund, so verängstigt, dass er aus dem Haus lief, an den erloschenen Fackeln vorbei, meinen Hügel hinauf und vor Angst jaulte. Das hatte der kleine Junge gesehen und stolperte hinterher, ihn einzufangen. Es standen beide durchnässt am Hügel und um sie herum schossen Blitze in die Erde wie Feuer griechischer Götter. Die Mutter hatte es gesehen und lief sogleich ihrem Sohn hinterher, bis sie ihn endlich einholte und den weinenden Jungen an sich drückte. Nun trat auch der Vater aus dem Haus, er hatte es zu spät bemerkt, sein Gesicht war bleich vor Angst, doch er rannte zu den beiden. Hoch oben, über uns, wurde der Himmel noch schwärzer, die Abrisse der Hügel verschwammen im kalten Gewitterregen und die Wolken wurden immer wütender. Ich wusste, sie würden diesmal einen tödlichen Blitz auf die Menschen schicken, die so oft so töricht mit dem Himmel umgegangen waren. Also brauten sie und stritten und wurden hitziger und es gab kein Entkommen für die Familie, die Wolken waren zu schnell. Sie sandten drei Blitze auf die Erde, ganz schnell. Der erste traf das Haus – es ging sofort in Flammen auf. Der zweite, ganz kurz danach, traf den Hund, der ganz still mit kreischenden Augen in den Schlamm sank – und der dritte war für die Menschen bestimmt.
Ich weiß nicht mehr, warum ich es tat, oder ob ich es überhaupt tat; ich weiß nur noch, dass ich mich in jenem Moment als die jähzornigen Wolken den letzten, allermächtigsten Blitz auf die Familie sandten, so stark fühlte wie niemals zuvor, eine unbändige Kraft wuchs in meinem Stamm und ich streckte meine Äste und wuchs und wuchs Meter um Meter nach oben, immer weiter über die Hügel hinaus und mit all meiner Macht dem Blitz entgegen. Dieser, man weiß ja um den Wankelmut der Blitze, änderte seinen Kurs in der Luft und schlug mit einem Knall in meiner Krone ein, spaltete mich und ich brach in regennassen Flammen auseinander, immer wieder und meine Flamme thronte auf dem Hügel noch viele Stunden. Bis der Morgentau des Flusses sich kühlend um mein totes, schwarzes Holz und all die verbrannten Erinnerungen meiner Blätter legte und ich in einen Schlaf fiel, von dem ich bis heute nicht weiß, ob er enden wird. Was mir geblieben ist, ist diese Erinnerung, die meine Liebe zu jenem Mädchen mit dem roten Buch ist, eine Geschichte tief aus dem Herz meines alten Stammes. Alle anderen sind nicht von Bedeutung, denn sie vergehen im Winter und der Wind nimmt sie mit sich. Ja der gute Wind, er kennt alle Geschichten der Welt. Und die sind – anders als wir Eichen und ihr Menschen – unsterblich.