Schwarzer Kater

Empfohlener Soundtrack

Ich konnte in Griechenland nicht schlafen.

Nichts und niemand konnte in Griechenland schlafen. Die Mücken konnten nicht schlafen, denn die schwirrten um mich wie deutsche Urlauber ums Buffet. Die Polizei konnte nicht schlafen, denn in den Gassen schwirrten die Vermummten mit den Molotowcocktails. Die Ratten konnten nicht schlafen, weil alle Mülltonnen Athens in Flammen standen. Selbst Achilles konnte damals nicht schlafen, bevor er gegen Troja rannte. Ich war also nicht allein. Das ist wichtig zu wissen, wenn du nicht schlafen kannst. 

Domi lag neben mir. Den schienen die Mücken einen Scheißdreck zu kümmern. Er schlief einfach, so wie es sich gehört, mittwochnachts um drei. Er schlief und er hatte es sich verdient, nach all den Monaten auf den Beinen. Irgendwer musste ja die ganzen Leute aus dem Meer ziehen. Ja, schlaf du nur. 

Sechs Mückenstiche später war es vier. Um halb fünf, nochmal drei Stiche später, kam aus dem Hinterhof ein Geräusch, das ich noch nie gehört hatte. Es klang wie ein Staubsauger, der eigentlich ein Düsenjäger sein wollte. Der Lärm kam in Schüben und jeder davon dauerte an wie ein Intro von Rammstein. Es hörte sich an, als würde jemand drölftausend Tonnen blechernes Kupfer und Eisenstangen und Stahlträger und Steine und schreiende Schweine in einem riesigen Kochtopf schütteln und dann in ein ebenso riesiges Eisenbehältnis kippen, nur um ein paar Mal umzurühren und den polternden, kreischenden Inhalt aus dem dritten Stock auf die Straße zu klatschen und mit Godzillafüßen ein paar Mal gegen die Hauswand zu kicken. Meine Wand vibrierte an meinem Ohr, dünn wie ein zu oft gebackenes Backpapier. Die Dezibel im Kubus des Hinterhofs vervielfachten sich weiter. Und ich wusste schon lange nicht mehr, ob das nun schon die Hölle war oder doch nur Athen. So klang es und es hörte um sechs Uhr auf. Ich war inzwischen duschen gegangen, glaubte ich zumindest, denn ich hatte das Wasser nicht plätschern gehört und war mir nicht sicher, ob man geduscht hatte, wenn man das Wasser nicht plätschern gehört hatte. Nochmal vier Mückenstiche später warf die Druckerei im selben Hinterhof ihre Maschinen an, die klangen wie feststeckende Aufzüge aus dem letzten Jahrtausend. Und um halb acht kamen die ersten Kinder in die Schule, die natürlich auch noch in diesem Hinterhof ihren Spielplatz hatte. Die Nacht war gelaufen. Genauso wie die letzte und die davor. Es wurde auch nicht besser mit dem Schlafen in diesem Land. Der Schlaf fand mich nicht, aber das machte nichts, denn ich warf mir fortan den Mantel der Nacht über, trug fortan schwarz, wie die Katzen der Nacht. Und verbrachte die sieben Tage und die sieben Nächte, die ich in Athen war, alle in dieser einen Bar, die Mavros Gatos hieß. Schwarzer Kater. 

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In einer Woche kann man viel machen in Athen. Man kann sich die Akropolis reinziehen, wo sie die Demokratie und große Brüste erfunden haben. Oder das Pantheon, was auch immer das ist. Man kann hochlaufen auf die Hügel und sich von ägäischen Sonnenuntergängen berieseln lassen. Oder zum Hafen rüber und einen Granatapfel schälen und eine Cola trinken. Oder sich die gebeutelten Griechen angucken, die bei ihren Eltern wohnen und keine iPhones haben. Man kann mit dem Bus fahren, was einem urbanen Abenteuer gleicht. Man kann sich auf Dachterrassen Drinks mit Chili und Oregano servieren lassen, mit Blick aufs Meer und rüber zu den alten Göttern. Oder bei Schokoladencrêpes und Bordeaux die schönsten Menschen treffen, die man je gesehen hat. Aber man kann auch die ganze Zeit in einer Bar sitzen, die Mavros Gatos heißt und Bier trinken. Oder Kaffee auf Eiswürfeln, wenn es für Bier noch zu früh ist. 

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Ich wollte gar nicht die ganze Woche in dieser Bar sitzen. Es kam einfach so. Ich kam eines Abends im Herbst nach Athen und Domi war noch in Thessaloniki. Er hatte mir von dieser Bar erzählt mit der schönen Kellnerin mit den glänzenden Augen, die ich natürlich nicht gefunden habe. Stattdessen setzte ich mich in diese andere Bar mit Lichterketten und bestellte ein Bier bei einer auch sehr schönen Kellnerin. Als Domi dann kam, es war schon elf, sagte er: »Wie schön, du hast es ja gefunden, das Mavros Gatos.«

Am nächsten Morgen gingen wir die Treppe runter, verließen das Haus. Die Sonne war so stark, dass wir die Augen zusammenkniffen und unsere Sonnenbrillen aufsetzten. Dann gingen wir fünfzehn Meter nach links die Straße entlang, an einem Zierbusch und ein paar überquillenden Mülltonnen vorbei und setzten uns auf zwei der Stühle, die das Mavros Gatos für seine Gäste aufgestellt hatte. Ich bestellte einen Cappuccino und Domi einen Freddo Espresso. Weil man hier alles freddo trinkt, sagt er, also auf Eis. Bier ist freddo. Die Flirterei ist freddo. Und das Gesicht der Typen, die dir Heroin verkaufen wollen, und es sich selbst in den Arsch jagen, wenn du nein sagst, auch. 

Domi musste irgendwann zur Arbeit. Da ich im Gegensatz zu ihm keiner rechtschaffenen Tätigkeit nachging, blieb ich sitzen. Sie hatten auch Toast in dieser Bar, Toast mit Käse und Schinken und Tomaten, aber die letzten beiden Zutaten fehlten meist. Toast war ein akzeptables Frühstück, weil vierzehn Uhr ja auch eine akzeptable Uhrzeit war. Irgendwann, wenn die Sonne nicht mehr ganz direkt von oben kam, durfte man dann wieder Bier bestellen. Dann ging der Tag von alleine rum, das war ein einfacher Trick, von vielen beherrscht, von noch mehr geächtet, von allen heimlich geliebt. Eugenia, die Kellnerin mit den funkelnden Augen, war sehr freundlich zu mir, weil sie Domi gut fand. Das einte uns. Das, und die Sache, dass sie viel Bier in kalten Gläsern zu tragen vermochte und ich generell Bier in kalten Gläsern sehr zugeneigt war. Vor allem, wenn – wie hier – nebenher Jazz und Blues aus den Lautsprecherboxen kam. 

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Wenn du viele Biere getrunken hast, kannst du im Mavros Gatos einfach über eine kleine Wendeltreppe im Innern zu den Toiletten aufsteigen. Das ist schlecht für Menschen mit Behinderung, aber gut für Menschen mit Harndrang. Wenn du wieder runterkamst, schlug dir schon langsam funkigeres Vinyl entgegen. Wenn du dann nochmal auf die Toilette gingst, war es schon Hip Hop. Und dann war die Nacht schon eine gute, bevor sie überhaupt begonnen hat. Wenn es Morgen wurde, musste ich nur ein paar Schritte nach rechts laufen, ins Haus hinein, an der Druckerei vorbei und mich zu den Mücken auf die Matratze legen, die mit meinem Blut eine Komaparty feierten, bis es dann wieder Zeit war für Toast und Bier. Den Cappuccino ließ ich fortan aus. 

Es ist, wenn man genauer darüber nachdenkt, viel besser im Mavros Gatos zu sitzen, als draußen in Athen. Es war hier völlig ungefährlich. Draußen saßen die Typen, denen die Spritzen aus dem Oberarm hingen. Hier drinnen war die größte Gefahr, dass einmal das Fass leer wurde, aber dann trank man eben ein anderes Bier. Man muss flexibel sein im Leben. Draußen war es windig und dieser Oktoberwind bläst dir die Haare vors Gesicht, dass du gleich gar nichts mehr siehst. Drinnen im Mavros Gatos war es geradezu windstill. Nur ein seichter Hauch puffte dir über die Haut, wenn dir der Schaum im Bier zusammenfiel, weil du es zu lange hattest warten lassen. Draußen war die Stadt übersät von Zeichen und Schildern, die man nicht ansatzweise verstand, selbst wenn man fünf Sprachen sprach oder mehr. Im Mavros Gatos, oder wie wir es liebevoll nannten, im Mavros, waren die Zeichen klar: Ein Finger bedeutete ein neues Bier, zwei Finger zwei davon. Es war sogar egal, welche Finger man benutzte, Hauptsache zwei. Und die Salznüsse kamen von ganz alleine. An der Wand hinter der Bar gab es einen großen Spiegel. Darin sah man, wie die Leute draußen auf der Straße umherirrten, weil der Wind ihnen das Haar vor die Augen geblasen hatte, sodass sie nichts mehr sahen. Man sah, wie nachmittags die Sonne langsam verschwand und die Leute anfingen zu zittern. Man sah aber auch sich selbst. Ob man noch salonfähig genug für dieses Etablissement aussah, denn Schönheit vergeht in Bars schneller als draußen. Und wenn nicht, dann war es an der Zeit, die Wendeltreppe nach oben zu steigen, für einen Abstecher zu den Waschbecken, um sich mit den Händen Wasser ins Gesicht zu spritzen, wie die Katzenwäsche es vorsieht. 

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Nun gut, man kann doch wirklich nicht sieben Tage und Nächte am Stück in einer Bar sitzen. Das redeten wir uns ein, als wir auf dem Weg in den Osten waren, dorthin, wo die Refugee Camps waren. Die Camps für Menschen, die auf der Flucht waren. Gebaut von Menschen, die auch auf der Flucht waren, nur vor anderen Dingen. Dort lebten die Helfer und Helfershelfer, Domis Kollegen, seine Freunde. Wir saßen mit ihnen beim Scampiessen und sie sahen müde aus. Sie kamen aus Frankreich und Italien und Deutschland und Schweden und den USA. Sie arbeiteten 14 Stunden am Tag für 400 Euro, wenn sie denn etwas bekamen. Sie sahen hunderte Helfershelfer kommen, mit Müll und Zelten und drei Tagen Zeit, in denen möglichst viel geholfen werden musste und schickten sie fluchend wieder heim. Sie hassten diese Leute, die sie Volontouristen nannten, die ja nur helfen wollten. Helfen und ein Foto für die Sponsoren bitte. Sie hassten diese Leute nicht wirklich, sie hassten nur, dass sie so naiv waren wie sie es einst gewesen waren. Und dass sie nicht mit den Camps sprachen, bevor sie mit viel Motivation, aber unnützen Sachspenden ankamen, die gar nicht gebraucht wurden. Ja, die Helfer waren dem Sarkasmus verfallen, so wie alle, die zu lange gute Dinge tun. Und sie taten es jetzt schon ein Jahr. Aber die Lethargie, die fließt dir schon nach einem Monat aus den Ohren. Sie lächelten wenig und vögelten viel. Sie rauchten wie die Fische und tranken wie die Schornsteine. Zu hektisch, zu langsam. An diesem Tisch roch es nach pubertärem Schweiß und endlosem Weltschmerz und ich biss meinem Scampi in den Arsch, dass er aufschrie. 

Auf dem Rückweg kamen wir an einem Mädchen vorbei. Sie war reich und schön und dick und betrunken und trug roten Lippenstift zu einem roten Kleid. Im Haus ihrer Tante bot sie uns Knoblauchsoße an, mit Brot und Wein und Trauben, die so groß waren wie kleine Avocados. Sie sang uns griechische Weisen von Spotify und erzählte uns von den Frauen auf Lesbos, die sich liebten. Als wir genug Knoblauch gegessen hatten, mussten wir gehen. Ich sagte zu Domi, dass ich nicht sicher war, ob es eine gute Idee gewesen war, das Mavros Gatos so lange Zeit verlassen zu haben.  

Es war Abend in Exarchia, die Mülltonnen rauchten und die Straßen waren nebelig. Wir liefen eine Gasse hinunter, an maskierten Polizisten vorbei, die hinter ihren Schildern standen. Steine lagen auf dem Boden. Große Steine, die ich nicht weiter als einen Meter werfen könnte. Dann schoss uns das Tränengas in die Lungen und in die Augen. Blind und atemlos rannten wir den Hang wieder hinauf, heulten und krächzten. Das Zeug brannte in der Lunge wie damals, als ich versucht hatte, einen Halm aus echtem Stroh zu rauchen. Es war tatsächlich keine gute Idee gewesen, das Mavros Gatos so lange zu verlassen. Wir waren uns einig, dass unsere tropfenden Augen ein Bier nötig hatten. Um das mit dem Flüssigkeitshaushalt wieder in Ordnung zu bringen. Eugenia brachte uns zwei davon und salziges Popcorn und ihre Augen funkelten uns vor Mitleid an und es fühlte sich gut an, wie nach Hause kommen nach einem Kampf. Vor uns waren die schönen Griechinnen, die Drinks rührten und Bier zapften. Griechinnen mit Tattoos und Killerblick. Dunkelhaarige Helenas. Wir saßen an der Bar und guckten ihnen zu, manchmal lehnten wir sogar oder standen auf. Immer in Bewegung bleiben, das ist wichtig im Leben. Ja, hier drinnen waren wir frei. Hier drinnen waren wir sicher. Hier brauchten wir keinen Schlaf. Wenn wir mal eine neue Perspektive auf die Stadt brauchten, so brauchten wir uns ganz einfach nur umdrehen. Und wenn ich nur nah genug mit dem Ohr an mein Bierglas sank, ja, dann konnte ich sogar das Meer rauschen hören. 

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