ent–täusche mich

Ich saß oft am Lagerfeuer in einer Zeit vor Covid, in the good old times. An solchen Feuern sprach man über andere Dinge als sonst, wisst ihr. Da springt mal ein Grashüpfer vor dir ins Feuer und plötzlich hast du eine Diskussion über suizidale Langfühlerschrecken an der Backe. Auch sonst eher die großen Themen: Liebe, Familie, Freundschaft, Sterne, Zeitdimensionen, Milchstraße, Sodomie, Sonnencreme. Mein absoluter Favorit bisher ist die Ehrlichkeitsdebatte. Ich sage mir nämlich nach, dass ich immer ehrlich bin. Das ist natürlich gelogen, weil es gar nicht geht. Aber man kann es als Maxime sehen und das tue ich.

In meiner Lagerfeuererfahrung spaltet dieser Gedanke die Menschheit. Andere tun das nämlich nicht so wie ich. Sie sagen, man muss manchmal lügen, um andere nicht zu verletzen, vor allem deine Freunde. Ich entgegne dann meist, dass ich mich eher verletzt fühle, wenn mich jemand anlügt, vor allem von meinen Freunden. Aber das interessiert diese Leute nicht. Ich sage dann auch, dass es viel nachhaltiger ist, jemandem kurzfristig wehzutun, als dein Leben lang mit einer Lüge herumzurennen, die eh irgendwann explodiert, nur um jemanden eine Zeit lang vor einer Wahrheit zu bewahren. Das interessiert aber auch niemanden. Dabei ist dieses Nichtsagen von Dingen doch Futter für zahllose Seriendramatik von Breaking Bad über Californication bis Orange is the new Black. Immer sagt irgendwer etwas nicht oder falsch– aus Angst oder Sorge – und dann baut sich die Spannung auf, bis sie zwei Staffeln später allen um die Ohren fliegt.

Jemand in meiner Familie hat 25 Jahre lang seiner Frau nicht erzählt, dass er Krebs hat. Um sie zu schützen. Was ist das für 1 life? Als ich das erfuhr, war ich total aus dem Häuschen, kam gleich mit der Moralkeule: Wie kann er nur… So etwas Intimes mit deinen engsten Vertrauten… Das macht man doch nicht… Lügner, Feigling, blablabla. Mein Bruder saß neben mir und sagte einfach: Wieso? Würde er genauso machen. Warum jemandem wehtun, wenn man nicht muss. Damals war ich erstmal sprachlos, aber jetzt an diesem Lagerfeuer habe ich die richtigen Worte gefunden.

Ich sage euch warum. Weil wir sie brauchen, die Enttäuschung. Ent-täuschung. Da steckt so viel drin. Wir haben uns getäuscht und das ist okay. Jetzt kommt jemand und hebt das auf. Wir wollen nicht in einer Täuschung leben, oder? Wir wollen, dass uns besonders die Menschen, die uns nahe sind, sagen, was Sache ist. Dass sie uns ent-täuschen. Wir wollen echte Dinge, echte Menschen, echte Sätze, echte Gefühle. Und jeder Mensch strebt irgendwie nach Wahrheit. Nicht nur am Lagerfeuer. „A stitch in time saves nine“ – kennt ihr? Das gilt für Freundschaften, Beziehungen, Arbeitsverhältnisse und Umkleidekabinen. Wenn du nichts fühlst, ist es besser, wenn die andere Person das auch weiß. Man kann dann Worte wählen, diplomatische oder weniger diplomatische, je nachdem wie empfindlich die andere Person ist oder wie viel Zeit ihr gerade habt. Davon haben wir generell nicht so viel. Naja. Auch solche Gedanken kommen dir, wenn du den in den Nachthimmel schwebenden Funken des Feuers zuguckst. Ihnen nachgaffst, während sie versuchen, den Großen Wagen anzukokeln. Da lebe ich die kurze Zeit lieber so enttäuscht wie möglich. Man muss ja nicht immer bei jeder Kleinigkeit gleich ins Feuer springen.

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