Die unerträgliche Ernsthaftigkeit des Seins Einen Tag erwachsen sein • 2 Min Lese

Foto: Anthony Yves

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Es war mein verdammter sechsundzwanzigster Geburtstag, an dem ich im Bett saß und heulend meine Brusthaare zählte. Sie waren zu sechszehnt, wobei es mir schwer fiel festzulegen, wo ein Brusthaar beginnt, Brusthaar zu sein. Ich einigte mich auf sechzehn und wartete darauf, dass gleich die Dämonen durch meine Zimmertür kamen und mich zu sich holten. Dann wäre es offiziell: Ich war endlich verrückt geworden.

Aber wie mit Brusthaaren verhält es sich mit den Verrückten: Man weiß nie genau, wann der Normale aufhört und wann der Verrückte beginnt. Also hörte ich auf, darüber nachzudenken und trank noch etwas mehr Alkohol.

Jetzt wird es ernst. Dieser Satz begleitet mich schon seit meinem ersten Kindergartentag. Am ersten Schultag dann wieder diese Angst: Scheiße, eine riesengroße Tüte in der Hand, vorne an der Tafel ein großes und ein kleines M in Schreibschrift, jetzt wird es aber wirklich ernst. Dann kam der erste Zug an einer Zigarette und wenig später ein Bild, auf dem ein großer schwarzer Penis in einer augenscheinlich begeisterten Blondine steckte. Das erschien mir auch schon ziemlich ernst, muss ich zugeben. Dann kam der erste Smirnoff Ice und als ich dann das erste Mal Sonnencreme auf Evas Bauchnabel schmieren durfte, war es schon wieder soweit: Der Ernst des Lebens. In den Folgejahren passierte es mir ungefähr wöchentlich, dass etwas ernst wurde. Aber das Konzept habe ich bis heute nicht verstanden.

Eine Nachbarin hatte mir das zum Geburtstag auf eine Karte geschrieben: “Lieber Herr Ketterer, ich möchte bitte keine Kieselsteine mehr im Treppenhaus, man stolpert doch darüber. Und ich wünsche Ihnen zudem alles Gute zu Ihrem Geburtstag. Nun beginnt der Ernst des Lebens.” Ich war zwanzig, versuchte mich mit drei Jobs selbst durchzubringen und fühlte mich eh schon ernster als es mir lieb war. Das Haus, in dem ich lebte, war an sich auch sehr ernst. Über mir eine 90-jährige Witwe, neben mir eine 80-jährige Rentnerin, unter mir eine weitere Rentnerin. Der Hausmeister wohnte auch irgendwo. Ich habe meiner unteren Nachbarin zweimal das Bad überschwemmt, weil ich keinen Waschmaschinenanschluss hatte und das Wasser immer ins Waschbecken leitete. Fast immer. Das fand sie natürlich nicht gut. Ich habe ihr zur Wiedergutmachung Beethoven am Klavier vorgespielt. Das fand sie zwar gut, aber es reichte nicht.

Überhaupt war ich damals umgeben von ernsten Menschen. Die zahlreichen kieselsteinstolpernden Rentner in meinem Haus, nebenan das Altenheim, die Massageklinik gegenüber. München schien damals überhaupt ein gutes Pflaster für die Alten, die Ernsten und die Sterbenden zu sein.

Trotzdem habe ich den Ernst nie verstanden. Ich meine, wir werden sowieso alle irgendwann mit diesem schreienden Ding im Arm im Kreißsaal stehen, ratlos, hilflos, wie sonst auch in der Warteschlange am Kaffeeautomaten. Und wir werden mit hoher Wahrscheinlichkeit alle irgendwann einmal Geld verdienen, Kontakte haben und Visitenkarten verteilen. Nach Tokio fliegen, aus Businessgründen. Sehr wahrscheinlich ist auch das Reihenhaus, Weihnachtsfeiersex mit der Praktikantin auf dem Drucker. Die Scheidung. Das Trinken. All das. Was ich nicht verstehe, ist, warum das jetzt ernster sein soll, als ein dahinsiechendes Pleiteleben in den Semesterferien, oder Nudeln einkaufen zu gehen, oder am Sonntag nur verschimmeltes Brot zu Hause zu haben. Oder mit vierzehn in einer Mine zu arbeiten. Es ist nämlich nicht ernster. Ich glaube nicht, dass sich ein Bausparvertrag groß von dem ersten Kuss unterscheidet – oder von der Entdeckung von sechszehn Brusthaaren mit sechsundzwanzig. In dem Alter hatte Cäsar wahrscheinlich schon halb Gallien erobert. Andere Zeiten, anderer Ernst.

Das war eins der wenigen Dinge, die ich bis zu diesem Geburtstag verstanden hatte. Dass Krise nur ein anderes Wort für Kurswechsel ist. Dass wir Menschen nun mal so sind, dass wir uns nur selbst ins Segel pusten. Wenn jemand anderes vorbeigesegelt kommt, winken wir freundlich und grinsen und hoffen, dass die anderen nicht auf die gleiche Idee gekommen sind.

Besonders ernsthaft finde ich das aber auch nicht.

There is no Evidence that Life is so serious.

Kommentare

  1. sie

    Krise, ein anderes Wort für Kurswechsel, das klingt schön. Das gute am Leben ist doch die Selbstbestimmung. Noch mal langsam, Selbst-be-stimmung. Entscheide also selbst wie ernst es dir mit den Brusthaaren ist. Ich glaube, dass das Leben eigentlich gar nicht so ernst genommen werden will. Und bald hast du ja wieder Geburtstag und vielleicht gratuliert dir dann deine Nachbarin zu einem neuen Brusthaar, so ganz ohne Kieselsteine, aber mit Beethoven. Und das Paradoxe ist doch, dass der Rentnerin inzwischen bestimmt schon wieder die Haare ausgehen 😉

  2. Vanessa Bruckner

    jetzt mal ganz ERNSThaft, so unter uns schreiberlingen, weltverbesserern, glaubensmachern, objektivitätsverfechtern. wie viel ERNSThaftigkeit steckt, beim punkt angelangt, denn überhaupt in eben diesem satz? also in dem ersten dieser (bislang) drei sätze. den mein ich, nämlich. ich mein´s ernst. und wie ernst meine meinung deiner meinung nach wiederum ist, darf außerdem als selbsterklärend für meine definition des wortes ERNST verstanden werden;)

  3. Nils Ketterer

    He, „sie“!

    Ja, Selbstbestimmung vs. Leichtigkeit! Ich habe das Gefühl, nichts wird schwieriger im Leben. Aber alles schwerer. Dagegen stemme ich mich wohl. Außerdem kommt bald das nächste Problem: Rückenhaare!!

    Liebe Vanessa,

    das musste ich mir jetzt vierzehn Mal durchlesen, aber ich glaube, ich weiß jetzt, was du meinst. Glaube ich… oder? Maybe. Hm.

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