Und immer dieser Lärm Das traurigste Grab der Welt • 7 Min Lese

Foto: Nils Ketterer

Wer liegt eigentlich im bemitleidenswertesten Grab der Welt– dem neben Jim Morrison?

Ich dachte über Freiheit nach und über Einerlei. Dann dachte ich Paris. Père Lachaise, am Todestag von Jim Morrison, warum nicht. Doch statt über das zuneigungsverwöhnte Grab des Doors-Sängers entstand eine Geschichte über das alte, verdreckte neben ihm. Über einen Mann, der nie einen Joint auf sein Grab gelegt bekommt – auf dessen Gedenken man höchstens Liebe macht, um Jim zu gedenken. Und doch hat er mir gezeigt, dass Geschichten oft dort liegen, wo wir nicht hinsehen.

Verdammter Platzregen, ich lag noch im Bett. Warum ich, warum heute? Doch dann erinnerte ich mich daran, dass ich aus einem Grund hier war: um die Welt wieder ins Gleichgewicht zu rücken. Dann stürmt es eben dabei. Acht Uhr. Ich war der erste am berühmten Pariser Friedhof Père Lachaise, der erste an Jim Morrisons berühmten Grab – zu seinem Todestag, dem dritten Juli. Jedes Jahr pilgern tausende Fans hierher, an dieses inzwischen abgezäunte Grab, um ihrem Rockidol mit einer Zigarette zu gedenken, Blumen oder Whiskey hinzulegen, oder Joints; oder manchmal, nachts, wenn niemand zuguckt, ein bisschen Liebe zu machen um dann vom Friedhofswächter und der Polizei aus dem Gelände gejagt zu werden. Liebe für Jim natürlich. Liebe für alle.

Der Regen hatte plötzlich aufgehört, ich legte meinen Schirm auf den nassen Boden. Bevor ich mir meinen nächsten Schritt überlegen konnte, kam Michelle schon auf mich zu. Sie war in Begleitung eines Wächters, der mir befahl den Schirm wieder aufzuheben. Respektlos sei das. Michelle hatte eine Mischung aus Verachtung und US-amerikanischer Freundlichkeit im Gesicht. Sie machte mir Angst. Ich war ihr zuvor gekommen. Ihr war dieser Tag um einiges wichtiger als mir. Es kam zu How are ’ya und zu Fine ’n you und dann standen wir zu zweit vor diesen nassen beschrifteten Gräbern. Eineinhalb Jim Morrison Fans zwischen all den dunklen, Spinnweben verhangenen Sträuchern, in denen sich ein paar einsame Regentropfen verfangen hatten und auf ihr Ende warteten, zwischen Raben und Gassen in Pflasterstein, allein. Es war jetzt kurz  nach acht und meine Augen waren noch nicht ganz offen, während die End- Sechzigerin anfing mit ihrer Digitalkamera aus den Neunzigern Fotos zu machen und mir zu erzählen, sie wäre Fotografin. Sie hat dann auch ein paar Fotos von mir gemacht. Sie sagte dabei immer ‚Oh yeah, take that Shot’. Es klang ein bisschen nach Porno, wenn sie das sagte, dachte ich, und: wenn diese Frau Fotografin ist, dann fress’ ich einen Besen, mit dem man gerade König Louis XIV Privattoilette ausgewischt hat.

Ich wurde wacher als Barry zu uns stoß, er war der dritte heute. Michelles Laune besserte sich etwas, weil nun auch sie vor jemandem angekommen war. Er hatte eine Fahne mit der man in die Französische Revolution hätte ziehen können. Nur völlig blau. Ich fragte ihn, ob er gerade von einer Party kam. Er sagte ja, in Schottland, vor 17 Stunden Busfahrt. Wenn das, was er da sprach, Schottisch war, muss ich meine Englischkenntnisse überdenken. Barry war abgefahren: Er sagte er wäre Drogensüchtiger von Beruf. Can’t keep your hands off it, right? Schottland finanziert das, ihm gefällt’s. Heute schickt er mir zu viele Nachrichten auf Facebook, die letzte darüber, wie er auf LSD einen IQ Test mit 115 bestanden hatte. Er hat mir auch schon dreimal die Freundschaft aufgekündigt – weil ich eine „backstabbing nazi cunt“ sei. Irgendwie mag ich ihn. Barry sah aus wie 42, konnte aber gut auch Ende zwanzig gewesen sein. Unter seinem Hemd trug er ein Jim-Morrison Shirt und seine Haut lechzte nach mehr Tinte. Um die aufgeplatzten Lippen hatte er Rotweinflecken und trug eine schwarze Lederhose, die jedes Mal, wenn er das Gleichgewicht verlor, quietschte. Sie quietschte oft. Irgendwer fragte ihn später in einer Bar, ob er Jim Morrison sei, wegen seinen Locken. Das bekam er aber nicht mehr mit, weil er nach dem zwölften Whiskey-Coke sein Glas falsch herum hielt.

Da waren wir also, inzwischen zweieinhalb Doors-Fans, vor allen anderen, die heute noch aus der ganzen Welt ankommen sollten. Vereint im Gedenken an den großen Jim: die undurchblickbare Rentnerin, der schwankende Drogi, und ich, der ich nicht verraten konnte, was ich hier zwischen den 70.000 Gräbern zu suchen hatte. Mir war Jim heute egal. Ich starrte auf das Grab rechts neben ihm. Das Grab, das nie Drogen abbekam, keine Blumen, und niemand versuchte auch nur zu lesen, was darauf geschrieben stand. Nicht einmal die Friedhofsdirektion wusste noch wer hier liegt. Die Grabnummer verwittert. Über alle hatten sie Informationen, aber über dieses Grab nicht. Ist doch nicht mal eine famous person, sagten sie. Nicht so wie Jim, sagten sie.

Als mir die Idee zu dieser Geschichte kam, war mir egal wer dort liegt. Es hätte eine französische Prostituierte sein können oder Asterix’ Nachfahren, mir tat dieses Grab einfach Leid. Also brauchte ich eine Geschichte und einen Namen. Die Geschichte fand ich, zugegeben höchst umständlich, in den Tiefen französischer Nationalbibliotheken, in abgesicherten unterirdischen Abteilen, wo die Bücher aus den letzten Jahrhunderten liegen. Jene sagenumwobenen Bücher, die dich, solltest du sie jemals zu Gesichte bekommen, sofort fühlen lassen wie Indiana Jones. Jene Bücher, für die man Wachpersonal überlisten muss. Jene Bücher, deren Seiten dir die Finger blutig schneiden, sobald du sie berührst, und deren Französisch dir unbekannte Grammatik um die Ohren schießt wie brennende Pfeile der Revolution.

Der Name zur Geschichte ist Antoine. Antoine Français de Nantes. Und es ist ein Meisterwerk des Zufalls, dass ausgerechnet er neben Jim Morrison begraben liegt.

Antoines Geschichte

Es ist Revolution in Frankreich als Antoine, bekannt geworden unter Antoine Français de Nantes, seine Geschichte schrieb, die gleichzeitig die Geschichte unserer freien Demokratie ist. Er war ein Revolutionär, wie Jim Morrison. Er war Politiker, Jim sah sich als erotischen Politiker. Sie sollten noch viel mehr gemeinsam haben als man sich vorstellen kann – doch dazu später.

Wir schreiben 1756 als Antoine auf die Welt kommt. Im selben Jahr wird Mozart geboren. Europa spielt Krieg. Siebenjahreskrieg. Zwischen Frankreich und England geht es sogar um die Vorherrschaft in Nordamerika. Keine ruhige Zeit also. Für Antoine war aber trotzdem eine behütete Kindheit vorgesehen: fünf Geschwister, fünf Pfarrer, sieben Lehrer. Die adeligen Français lebten in Beaurepaire, Isère, im ‚goldenen Tal’ westlich der Alpenstadt Grenoble. Nach seiner Ausbildung fand sich Antoine am anderen Ende Frankreichs wieder, wo ihn ein Freund der Familie ins Zollwesen einführte und woher er auch seinen Namenszusatz bekam: aus Nantes. Studierter Jurist der er war, wurde Antoine dort irgendwann Chef und fing nebenbei an zu schreiben und politisch aktiv zu werden. Nicht nur wurde ihm nachgesagt sehr redegewandt zu sein, er vertrat auch eine von vielen als angenehm gemäßigt empfundene Position der Revolutionsgedanken. Antoine war ein schneidiger Typ, wie sein Biograph Doktor Bally schreibt, oder besser schmachtet: „Seine Statur war schön, sein Teint zurückhaltend, seine Erscheinung fein und doch ausdrucksstark.“ Er ärgert sich zwischen seinen Zeilen, dass Antoines schöner Körper von der Staatsmannskleidung verdeckt blieb. Antoine muss es ihm wirklich angetan haben.

Zeitsprung ins Jetzt

Später Vormittag, wieder in der heutigen Zeit: Regen wich Sonne und die Schriftzüge auf den Grabsteinen fingen an zu leuchten. Während sich dutzende Touristen inzwischen an der Absperrung um das Grab sammelten, sich übertrieben andächtig Zigaretten anzündeten, oder Joints mit Freunden teilten, standen acht Securities im Hintergrund, bewaffnet mit Klingelglocken. Sie ermahnten jeden, der sich auf einem Grab abstützte, gegen einen Baum lehnte, oder sich auf den Boden setzte. Ist ‚interdit’ – verboten also. Wenn das jeder machen würde. Es war inzwischen elf Uhr und die härtesten Doors-Fans hielten ihre jährliche Zeremonie für Jim ab: Blumen, Reden, Gedichte, Fotos, Tränen, nein, Verzeihung, diesmal keine Tränen. Ich musste filmen, das befahl mir die Organisatorin Catherine. Ich gehorchte, weil Catherine einerseits an die 120 Jahre unter ihrem Make-Up trug, andererseits war sie nach eigenen Angaben auch Zauberin; das mit dem Zaubern löste bei mir den abstrusen Gedanken aus, in einem Topf voller Salamanderfüße zu landen, würde ich ihrem Geheiß nicht nachkommen. Außerdem schlage ich ungern älteren Damen etwas ab. Schon gar nicht an diesem großen Tag, Jims Tag. Von Antoines Grab nahm niemand Notiz, warum auch. Vor ein paar Monaten musste der Friedhof sein Grab säubern, da zu viele Morrison Fans darauf gekritzelt hatten. Jim I love you oder I love Acid. Auch zu viele hatten darauf gesessen, man sah es an dem abgeriebenen Moos.

Antoines Revolution

Lasst uns wieder zurück springen, in die Zeit, als Europa Ende des 18. Jahrhunderts wieder einmal im Chaos versank: Die zwei großen demokratischen Revolutionen in Frankreich und Nordamerika brachten Chaos und Gewalt mit sich. Die Franzosen führten Krieg gegen Österreich und die römischen Katholiken. Preußen rückte an, und dann musste natürlich auch noch Portugal und später die halbe Welt invasiert werden. In dieser wilden Zeit pulsierte Antoines politische Karriere: Er war 33, als 1789 die Bastille belagert wurde. Antoine übernahm die Reformen der Revolution aus Überzeugung und gewann so an Beliebtheit, es war jetzt das Volk, das die Gesetze machte und Antoine war sein Sprachrohr. Als unsere Demokratie 1792 laufen lernte, gelangte Antoine in das frisch entstandene Französische Unterhaus, die Nationalversammlung, also eine Art Parlament. Dieser saß er im selben Jahr noch als Präsident vor. In den nächsten beiden versank Frankreich im Blut. Terreur, also Terrorherrschaft nennen sie jene von Robbespierre angeführte, mörderische Phase der Revolution, in der jeder auch nur wenig verdächtige „Gegner der Revolution“ legal hingerichtet werden konnte. Es gab extra präparierte Boote auf Flüssen, auf denen die Leute reihenweise und systematisch exekutiert wurden, wenn es mit der Guillotine zu langsam ging. Man spricht von bis zu 200 000 Opfern, bis der irgendwann ziemlich durchgeknallte Robbespierre selbst unter der Guillotine starb. Antoine als gemäßigter und daher gefährdeter Politiker zog sich in dieser Zeit in die Alpen zurück, nach Grenoble, hörte aber nicht auf mit der Politik. Als Bonaparte später die Macht an sich riss, bekam Antoine eine hohe Position als Oberaufseher über Staatssteuern. Eine tolle Karriere, die aber nur wenig Zeit für ein erfülltes Liebesleben ließ: Erst mit 42 vermählte er sich mit der charaktersüßen Mademoiselle Teste le Beau, sie bekamen eine wundervolle Tochter: Marie Elisa. Zu landesweitem Ruhm gelangte Antoine später auch Dank seiner Bücher, die er oft unter dem Akronym ‚M. Jerome’ herausgab.

Im Dezember seines Lebens zog es ihn nach Paris, wo er ein Hotel besaß. Antoine wurde alt, 80 Jahre um genau zu sein. Bei der Beerdigung 1836 verlas M. Dumoulin, ein Getreuer Napoleons seine Grabrede. Er sagte: „Grenoble weint heute um eines seiner edelmütigsten Kinder. Sein Leben war Dienst an der Freiheit.“ In den Händen hielt er ein von Antoine als Präsident der Nationalversammlung verfasstes Gesetz von 1792. Antoine bekam ein Grab für die Ewigkeit. Die Linie der Français brach wenig später ab, seine Tochter Marie Elisa Français de Nantes und seine Enkeltochter Marie-Françoise Elisa Bullot liegen heute auch bei ihm. Ihre Namen stehen größer und sichtbarer unter Antoines.

Ein ungewöhnliches Interview

Die Menschen sagen, dass die Stimmen der Toten auf Père Lachaise niemals sterben. Sie sagen, dass sie sogar zu dem sprechen, der das Gefühl großen Verlustes erlitten hat. Ich schwöre, ich war kaum betrunken, aber ich habe sie gehört.

– Bonjour mein Freund, ich bin Antoine Français. Man nennt mich Français de Nantes. Sie plagt ein Verlust?
– Wie bitte? Sind Sie nicht tot?
– Aber natürlich, Monsieur. Ist das so abwegig? Nun sagen Sie mir, welcher Verlust plagt Sie?
– Nein, nein, Sie müssen mich verwechseln! Das war nur mein iPhone, so groß war der Verlust nicht. Das ist eben Paris – die Stadt der…
– …Diebe! Wie Recht Sie haben. Die Stadt, die noch immer duftet, nach Parfum und…
– …Pisse, Pardon. Aber es stinkt hier wirklich.

Antoines Stimme nickte.

– Verlust ist Verlust mein lieber Freund. Ein kleiner Trost: Dinge kehren wieder, Menschen nicht.
– Herr Français, ich komme mir dabei selbst etwas komisch vor, aber ich frage Sie jetzt einfach: Hätten Sie vielleicht Zeit für ein kurzes Interview?
– Zeit? Sie belieben zu scherzen. Zeit im Tode ist wie Malerei für die Blinden. Wie Gott für die Wissenschaft. Ich glaube nicht mehr an Zeit. Sie ist eine Lüge. Also fragen Sie, fragen Sie.
– Vielen Dank, Sie können mich übrigens duzen, ich heiße Nils.
– Antoine, angenehm.

Die Stimme lächelte.

Antoine, wie gut kennst Du deinen Grabnachbarn Jim Morrison?

Mon dieu, Jim und ich, wir sind alte Freunde. Traurige Sache sein Ableben. Doch er war stets seinem Geiste treu – steht das nicht passenderweise auf dem Grabstein? Mein Griechisch ist etwas eingerostet.

Ja, das stimmt. Wenn Du mich fragst, suchte sein Vater diesen Satz nur aus, um seine Enttäuschung in versöhnliche Worte zu meißeln.

Das mag sein, doch bedenke: Vater zu sein ist nicht einfach, ebenso wenig wie Sohn zu sein. Ein berühmter Sohn zu sein, noch weniger, denn er muss Vater sein für Millionen. Es ist ein Gefängnis. Ich habe mich viel mit Jim über die Liberté unterhalten…

…ihr wart beide große Verfechter der Freiheit…

…es sind andere Freiheiten, für die wir kämpften, nichtsdestotrotz waren es Freiheiten. Jim erzählte mir, er wurde verhaftet, weil er sich vor anderen entblößte?

Viele Hundert Zuschauer folgten seinem Beispiel, das war damals in den USA ein Affront.

Ah, die USA, schillernder Lichtblick, alter Freund und liebende Mutter der Demokratie – sag, wie steht es um sie?

Oh, ähm, das… Lass uns lieber über Jim sprechen, ja?

Nun gut, ich war traurig zu sehen, wie er sich einreihte in den Club der 27…

…Du meinst jene berühmten Musiker, die mit 27 Jahren ihr Leben ließen, darunter: Janis Joplin, Jimi Hendrix, Curt Kobain, Amy Winehouse?

Ganz recht, doch wer sind Mademoiselle Winehouse und Monsieur Cobain? Ich kenne eure Musik selbstverständlich nur aus Jims Erzählungen.

Du kennst Amy Winehouse nicht? Kurt Cobain? Back to Black? Nirvana? Nichts? Das muss man schon gehört haben.

Ich merke es mir, ich liebe Musik. Ist es ähnlich diesem Rock, von dem Jim so schwärmt?

Naja, ähnlich. Sag mal, Antoine, mir brennt etwas auf der Zunge: Jim und du, ihr seid euch so ähnlich – und liegt hier zusammen. Ist das nicht ein Zufall?

In der Tat, mein Freund. Wir reisten beide viel. Wir lieben das Theater, die Poesie und die Musik. Wir kamen aus gutem Hause und waren doch Revolutionäre, jeder auf seine Art. Und wir versuchten stets die Nähe zu den Menschen zu halten, so schwierig das auch war. Ich war stolz darauf, den Bürgern mehr Rechte zuzusprechen. Jim wiederum war es unangenehm, von so vielen Menschen für Dinge gehalten zu werden, die er nicht war. Wenn man es so will, waren wir beide Vorboten einer neuen Zeit. Aber am Ende des Tages wollten wir einfach nur leben und schreiben, einen Fußabdruck hinterlassen, der die Welt zu einer besseren macht. Außerdem sind wir beide politisch ziemlich links, hoffnungslose Idealisten…

Die Stimme zwinkerte.

…Und wir suchten beide gegen Ende unseres Lebens die Ruhe, in Paris. – Ist das so richtig, Jim? Jim, ich werde gerade interviewt!

Eine kurze Pause. Überall um mich herum Touristen. Ich setze mich auf den Boden. Ein Friedhofswächter hob mich wieder auf, als Antoine weitersprach.

… Pardon, Jim ist gerade im Gespräch, er ist heute sehr gefragt, wie du ja vielleicht weißt. Er hat immerhin Todestag.

Ist okay. Was, würdest Du sagen, ist euer größter Unterschied?

Nun, Jim starb für seine Zeit sehr früh und ich sehr spät für die meine. Drogen sind ein anderes Thema. Aber abgesehen davon war ich großer Vertreter von Recht und Regierung, das ist für mich der Weg zur Freiheit. Jim verabscheut das. Er verbrachte einen Großteil seines Lebens damit dagegen zu rebellieren. Wie gesagt, es sind andere Freiheiten für die wir standen. Wir diskutieren oft in dieser Sache, aber Menschen müssen sich nun einmal unterscheiden, vor allem in der Meinung.

Ich verstehe. Wie hast Du die Zeit nach Jims Tod 1971 erlebt?

Nun, es gab schon allerhand Schweinereien, die hier am Grab passierten: Tausende Menschen kommen hierher, jedes Jahr. Auf jeden, der hier ruht, kommen zwei Besucher. Ein paar davon sind höchst ungezogen. Sie malten und schrieben Dinge auf Jims Grab, ja auch auf Meines, was ich persönlich als die größte Frechheit empfinde, noch dazu Dinge, die ich nicht verstehe, wie „Acid“ oder „Lizard King“. Manche schlugen sich Steine aus seinem Grabstein, andere wiederum machten, wie soll ich sagen…

…unanständige Dinge?

Auf meinem Grabstein. Das ist schon etwas unangenehm, auch als Toter. Als ein ungarischer Bildhauer dann Jim eine Büste fertigte, dauerte es nicht lange, bis auch diese verunstaltet und schließlich geraubt wurde. Man hörte irgendwann, dass ein paar Barbaren seine Gebeine ausgraben wollten. Das blieb aber aus.

Sah das hier einmal anders aus?

Wohl wahr. Früher stand vor unseren Gräbern einmal eine kleine Kapelle mit anderen Gräbern darunter. Die wurde jedoch erst beschmutzt, dann abgerissen und die Gräber darunter sind jetzt Vorboden zu Jims Grab. Manchmal haben ein paar Gestalten in schwarzem Ledergewand ein Huhn geschlachtet, ohne es zu essen. Welch’ Verschwendung, nicht?

Hast Du ein Problem damit, wenn sich jemand aus Müdigkeit auf deinem Grab aufstützt?

Nein, wer müde ist, muss rasten. Und wer gedenken will, soll sitzen dürfen. Aber dieser Vandalismus! Oscars Andenken musste vor zwei Jahren von allen Schmierereien gesäubert und mit Glas umgeben werden.

Meinst du Oscar Wilde, der auch auf Père Lachaise begraben ist? Aber die Kussabdrücke waren doch toll!

Ganz recht. Küsse hin oder her, Liebe ist doch nicht für alle da.

Da würde Jim widersprechen…

Möglich. Ich bin da altmodisch. Schon mehrmals mussten die Familien und der Friedhof unsere Gräber reinigen. Es ist eine Plage. Seit wir den Zaun haben, ist es besser.

Hättest Du gerne mehr Blumen auf deinem Grab?

Es sieht in der Tat etwas trostlos aus, diese einzelne über Moos verstaubte Keramikrose, da hast du Recht. Ich weiß auch nicht mehr, welcher Unästhet sie dorthin legte. Aber man muss sie nicht gießen, das ist praktisch.

Antoine, ich muss gehen. Vielen, vielen Dank für das Gespräch.

Nichts zu danken, jederzeit wieder. Au Revoir! – Ach, Monsieur, einen Moment bitte, eine Sache noch… Wie steht es denn heute um unsere Liberté, ich meine, sind wir endlich frei…?

Ein Todestag geht zu Ende

Ein plötzlicher Lärm entriss mir meine Antwort. Es war kurz vor 18 Uhr. Die Wächter schwangen ihre Glocken und schoben alle Besucher fluchend und kopfschüttelnd weg von der Grababsperrung, in Richtung Ausgang. Ich hatte den ganzen dritten Juli an Antoines Grab verbracht; hatte die Reisegruppen kommen und gehen sehen, die Joints kreisen und Rock wieder aufleben sehen. Ich war wahrscheinlich der einzige an diesem dritten Juli, der auch an Antoine dachte. Michelle erschleimte sich mit viel Old- Lady Charme und ihrem gekauten Franglish beim Oberwächter eine Sondergenehmigung zum Längerbleiben – mich wollte sie nicht dabei haben. Vielleicht war das ihre Art von Vergeltung dafür, dass ich ihr am Morgen aus Versehen zuvorgekommen war.

Die harten James Douglas Morrison Fans sammelten sich später auf zu viele Drinks in einer Bar direkt an der Friedhofsmauer. Wie jedes Jahr. Barry war auch dabei. Aber wie gesagt, er hielt seinen Whiskey falsch herum, bekam keinen geraden Satz mehr heraus und „saß“ nur noch mit dem halben linken Oberschenkel auf seinem Stuhl. Seine Hose quietschte nun ununterbrochen. In derselben Bar traf ich noch einen Mann, der Jim einmal von einem Zusammenbruch auf der Bühne mit nach Hause nahm, umsorgte und dafür eine Koryphäe in Paris geworden ist. Noch ein paar 70-jährige Damen, die damals mit ihm geschlafen hatten oder das gerne hätten.

Aber irgendwie war ich hier fehl am Platz, ich musste gehen. Niemand hier wollte über Antoine sprechen. Victor Bally, Antoines verknallter Biograf schreibt am Ende: „Auch wenn die Zeit mich überwindet, werde ich immer eine Geschichte geschrieben haben über einen großen Mitbürger, der es verdient, im Gedächtnis der Menschen zu leben.“ Antoine war vielleicht kein Held und hat uns auch keine Songs für die Ewigkeit hinterlassen. Aber er hat mehr verdient als eine staubige Keramikrose, die man nicht gießen muss.

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