Room 43 Story Hotel Es war Nacht, es war Stockholm • 3 Min Lese

Ich starrte aus dem Hotelfenster auf eine rot blinkende Zahnpastareklame, als Klaras Mutter starb. Im Fernseher lief eine Doku über die 50er in Chicago. Es war Nacht. Es war Stockholm, dieser regnerische Vergnügungspark.

Dieser Ort, der dir das Gefühl gibt, du warst wirklich einmal ein Kind und das ist gar nicht so lange her. Du warst Mio und Ronja und Pippi und Jonathan. Aber du bist jetzt groß. Niemand sagt dir mehr, dass du Fruchtzwerge essen musst, aber niemals im Bett, wegen den Flecken. Nein, du bist jetzt erwachsen. Iss deine scheiß Fruchtzwerge im Bett und klecker‘ alles voll. Erwachsensein heißt doch auch nur, dass du statt mit ein paar Öre in der Hand jetzt mit deiner Kreditkarte in den Süßigkeitenladen läufst. Und dass manchmal, wenn du Glück hast, eine Schwedin neben dir im Bett liegt, deren Brust nur ein offener Wollcardigan bedeckt.

Elin hatte blonde kurze Haare, als sie am Tag zuvor hinter mir an dieser Bar im hippen SOFO stand, dort wo alle Schwarz tragen und gefärbte blonde Haare – auch wenn sie schon blond sind. Man muss das nicht verstehen. Jemand sagte mir, das ist, weil sie schon so globalisiert sind, dass sie sich schon alle Hautfarben rausgevögelt haben und jetzt müssen sie sich halt die Haare färben. Sie tragen auch Plateauschuhe, obwohl sie alle schon riesig groß sind. Die sehen aus, als würden ihre Körper dem spärlichen Licht entgegen wachsen, so wie Giraffenhälse den obersten Blättern der Baumkronen. Vielleicht ist es auch das Knäckebrot oder die salzige Butter oder dass sie gar keine Fruchtzwerge essen. Wie dem auch sei. Sie sind groß.

Dem DJ war jemand auf die Platten gestiegen, so dass sein nächster Song nach einer halben Sekunde stoppte. Ich drehte mich um: 

„War das The Cure?“

„Just like Heaven,“ sagte sie.

„Wer macht denn einen The Cure Song aus?!“ Sie lachte.

Ich gab ihr eines meiner zwei Biere ab und sagte, der Freund, für den das Bier eigentlich war, würde sicher verstehen. Und während sie die nächste Runde bezahlte, erzählte ich ihr, dass ich gerade zwei Monate auf einem bewaldeten Hügel im Hinterland gelebt hatte und froh war, einen Menschen zu treffen, der gut riecht, nach Parfum und Frauencremes und so schön aussieht wie sie. Sie erzählte mir, dass sie zwei Kinder hat. Nach zwei weiteren Bieren hatte ich das vergessen. Nach sieben ging ich nach Hause. Am nächsten Abend kam eine SMS.

Nils. Story Hotel Riddargatan, Room 43. Denk drüber nach.

Mir ging es ganz gut, als ich den Hotelgang entlang ging, nur meinem Kreislauf nicht. Die vielen Stufen hoch in den vierten Stock waren eine gute Ausrede. Irgendwie hatte ich den Aufzug nicht gefunden. Oder ich wollte ihn nicht finden, damit ich eine Ausrede hatte für mein Schnaufen. Wer weiß das schon. Und wie klopft man an so einer Hoteltür? Zweimal? Dreimal? Drei kurz, drei lang, drei kurz? Oder nur einmal? Ne, einmal Klopfen ist unheimlich. Niemand tut sowas. Ich entschied mich für die Variante: zweimal, vorsichtig, aber selbstbewusst, das zweite Mal etwas leiser als das erste. Die Tür zu Room 43 ging auf.

Elin hatte einen Slip an und diesen offenen Wollcardigan, das war‘s. „Komm rein,“ lächelte sie. Barfuß wirkte sie viel kindlicher als letzten Abend. In ihrem Fernseher lief diese Schwarzweißdoku ohne Ton. In ihrem Kopf lief ein ganz anderer Film. Irgendwann fing es an zu dämmern, sofern man das dämmern nennen kann, was hier im Norden morgens passiert, und sie sagte:

„Schau mal nach draußen, siehst du diese rote Zahnpastaleuchtreklame? Ich kann wegen der sowieso nicht schlafen. Dann schlafe ich besser mit dir.“

Wir lagen noch eine Weile zusammen dort. Sie in dem Wollcardigan und ich nackt daneben am offenen Fenster und wir starrten auf die rote Zahnpastaleuchtreklame. Um fünf Uhr morgens war ich wieder allein und draußen auf der Straße vor dem Hotel. Ich kaufte mir einen Schokobrownie bei 7Eleven, ging heim, legte mich auf meine Matratze am Boden und schlief hundemüde ein.

Eine Stunde später ging die Tür zu meinem Zimmer auf. Klara stand im Rahmen. Sie sagte „Hej. Meine Mutter ist tot.“ Sie setzte sich zu mir ins Bett und weinte. Ich hatte noch nie eine fünfzigjährige Frau so weinen sehen. Ich schaffte es noch, all meine südländischen Emotionen zusammenzunehmen und sie von der Seite zu umarmen und ihr über den Rücken zu streichen, während sie weinte und redete und weinte. Da wusste Klara noch nicht, dass man ihr in ein paar Tagen ein Glas Sekt in die Hand drücken würde, damit sie ihre Mutter nicht nüchtern angucken musste, die da hübsch zurechtgemacht und tot vor ihr im Sarg lag.

Vor zwei Tagen saß ich selbst noch mit Klaras Mutter in einer Hütte am Land und wir aßen einen dicken fetten Hecht, den ich aus Versehen aus dem regennassen See gezogen hatte. Sie sagte, sie liebte Hecht. Sie sagte, sie liebte das Leben. Ich sagte, ich auch. Dann sagte sie Wie bitte?, weil sie nichts hörte. Sie sagte immer, dass sie nur einen schlechten Ohrentag hätte. Jedes Mal. Was ich dazu sagte, hörte sie nie. Dann sagte sie noch, wenn eine schwedische Familie einen Deutschen an den Tisch mit einem riesigen Hecht bekommt, dann ist in so einer Familie alles möglich. Ich glaubte ihr und ich liebte diese Familie, diese fünf Frauen, die mich hier aufgenommen hatten. Ich liebte Klara und ihre Schwester Agnes, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Beide viel zu cool für diese Welt. Die eine eher Hippie-Punk, die andere eher Hipster. Ich liebte Klaras Töchter. Die eine Ingenieurin, die andere Sängerin. Aber vor allem liebte ich diese 91-jährige Großmutter. Dafür, dass sie die gleichen Kinderbücher im Regal stehen hatte wie ich. Dafür, dass sie mir zeigte, dass jeder ein bisschen alles ist. Ich ein bisschen schwedisch, sie ein bisschen deutsch. Alle ein bisschen was. Wir saßen zusammen auf ihrem Balkon im Süden der Stadt und aßen Kuchen und tranken literweise Kaffee, so wie Schweden das eben tun. 

Sie hatte geschrieen, als sie den Herzinfarkt kommen spürte. Das Ziehen am Auge. Klaras Schwester und ihr Mann waren nach oben gerannt und hatten den Landarzt gerufen. Sie hatten sie noch einmal wiederbelebt. Aber irgendwann ist alles vorbei. Das vergessen wir nur manchmal.

Klara legte das Telefon aus der Hand, stand auf und ging in die Küche. Und ich, ich Arschloch, ich schlief einfach wieder ein.

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